Grundzüge der Strafrechtsreform

Mit der Strafrechtsreform sollten neue gesellschaftliche Akzente in der Strafrechtspflege gesetzt werden. Insbesondere aufgrund der heftigen Debatten wurde sie in der öffentlichen Diskussion jedoch häufig auf die Frage der Schwangerschaftsunterbrechung reduziert. Zentrale Neuerungen der Reform fanden in der öffentlichen Diskussion der 1970er Jahre somit nicht jene Aufmerksamkeit, die ihrer Bedeutung entsprochen hätte.

Als Reformschwerpunkt wurde bereits im Justizprogramm von 1969 der Abbau von ideologischen Schranken und Vorurteilen genannt, die dem wirksamen Rechtsgüterschutz und der Wiedereingliederung der Rechtsbrecher*innen in die Gesellschaft entgegenstehen. Aufgabe des Staats solle es nur mehr sein, dort zu strafen, wo es keine andere Möglichkeit in der Vorbeugung oder Abhilfe gegen Rechtsbrecher*innen gibt, wobei auf ihre unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen sei und deren Resozialisierung gefördert werden müsse.

Diesen Vorgaben entsprechend, brachte das neue Strafgesetzbuch, über das mit Ausnahme der Schwangerschaftsunterbrechung keine fundamentalen Meinungsunterschiede zwischen SPÖ, ÖVP und FPÖ bestanden, folgende Neuerungen:

  • An der Spitze des neuen Strafgesetzbuches (besonderer Teil) stehen nicht mehr die Verbrechen gegen den Staat, sondern gegen den*die Einzelne*n. Das Verhältnis von Bürger*innen und Staat wurde im Strafrecht somit – wie es bereits die Kleine Strafrechtsreform vorweggenommen hat – völlig neu definiert.
  • Eine Entwicklung vom Vergeltungsstrafrecht hin zum Zweckstrafrecht ist feststellbar. Wenn auch der Gedanke der Sühne noch Bestandteil des Strafrechts ist, wird in der Prävention ein wichtiger Zweck des Strafens gesehen.
  • Das Strafrecht wird aus der Privatsphäre zurückgenommen, „Moraldelikte“ werden entkriminalisiert. Das Strafrecht soll v.a. dort Gültigkeit haben, wo strafbare Handlungen das Zusammenleben in der Gesellschaft schwer beeinträchtigen; Richter*innen soll kein Sittenrichter*innen sein.
  • Kurze Freiheitsstrafen sollen zurückgedrängt und durch Geldstrafen (in Form eines Tagsatzsystems) ersetzt werden.
  • Es werden Alternativen zur Freiheitsstrafe (darunter die Einführung der Bewährungshilfe für Erwachsene) entwickelt und
  • vorbeugende Maßnahmen eingeführt.
  • Sonderanstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher*innen, Drogenkranke, Alkoholiker*innen und gefährliche Rückfalltäter*innen werden aufgrund neuer Erkenntnisse aus Kriminalsoziologie, Psychologie, Psychiatrie und Medizin eingeführt.
  • Das alte Strafsystem wird vereinheitlicht, früher mögliche Verschärfungen (Hartes Lager, Fasten, einsames Absperren in dunkler Zelle) – Überreste der „Leibesstrafen“ früherer Zeiten – werden beseitigt.
  • Rechtsfolgen von Strafurteilen werden abgemildert.

Bestandteile der Strafrechtsreform der 1970er Jahre sind neben dem Strafrechtsänderungsgesetz 1971 und dem neuen Strafgesetzbuch, das mit 1. Jänner 1975 in Kraft trat, mehrere Begleit- und Nebengesetze sowie Neuerungen im Strafprozessrecht und ein neues Gesetz über die Gewährung von Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen.