Herausforderungen an Staatsbürgerschaft

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts und verstärkt im 21. Jahrhundert gibt es Entwicklungen, die für das historisch gewachsene Konzept von Staatsbürgerschaft, das eng an nationalstaatlich strukturierte demokratische Systeme gebunden ist, gewisse Herausforderungen darstellen. Die oben erläuterte Debatte um die „Mitgliedschaft“ in einer Nation und in einem demokratischen politischen System wird dadurch um neue Aspekte erweitert (vgl. Näsström 2011: 122).

Internationale Migration

Internationale Migration ist ein weltweites und sehr altes Phänomen. In den letzten Jahrzehnten hat Migration aus verschiedenen Gründen zahlenmäßig stark zugenommen. Von 1910 bis 2000 verdreifachte sich beispielsweise die Weltbevölkerung, wohingegen die Zahl der Migrant*innen sich versechsfachte (vgl. Benhabib 2007: 175). Im Jahr 2020 lebten weltweit etwa 280,6 Millionen Menschen in einem anderen Staat als ihrem Geburtsland, das waren rund 3,6% der Weltbevölkerung. 1990 waren es 153 Millionen Menschen (UN Migration Data Portal 2020/). Insgesamt lebten Anfang 2019 etwa 21,8 Millionen Drittstaatsbürger*innen in der EU, das heißt, sie haben keine Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedslandes. Das sind etwa 4,9 Prozent der Bevölkerung in der EU. Dazu kommen noch etwa 13,3 Millionen Menschen, die in einem anderen EU-Mitgliedsland leben, als sie ihre Staatsbürgerschaft haben (Unionsbürger*innen) (vgl. Eurostat 2020a).

Insgesamt sind die Menschen flexibler und mobiler geworden, es ist keine Seltenheit mehr, dass jemand in verschiedenen Staaten der Welt lebt bzw. Bezugspunkte hat und sich mit verschiedenen Städten oder Staaten gleichermaßen identifiziert (vgl. Osler/Starkey 2005: 12). Dies wird auch „plurilokale Zugehörigkeiten“ genannt. Die Menschen formen ihre Identität aus einem „Patchwork von Zugehörigkeiten, die flexibel erweitert aber kaum reduziert werden können“ (Cattacin 2005: 6). Durch neue Technologien und temporäre Migrationsformen können die Menschen eine stärkere Verbindung zu ihren Herkunftsländern aufrechterhalten, etwa weil per Videotelefonie oder Videochat regelmäßige Kommunikation und per Satellitenfernsehen der Empfang von internationalen TV-Kanälen möglich geworden ist (vgl. Benhabib 2007: 175).

Der Anstieg internationaler Migration steht mit vielfältigen politischen, technischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der Welt in Zusammenhang. Einerseits stieg die Mobilität der Menschheit insgesamt an, Transportmittel und Reiseverbindungen haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verbessert, Reisen bzw. Migration ist daher einfacher zu realisieren als früher. Dazu kamen internationale historisch-politische Entwicklungen, wie Dekolonialisierungsprozesse, internationale Krisen und Bürgerkriege in verschiedenen Teilen der Welt, welche Flucht- und Migrationsbewegungen auslösten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrieben mehrere europäische Staaten aktive Anwerbepolitik gegenüber so genannten Gastarbeiter*innen aus anderen Staaten (vgl. Anderson/Just 2012: 481): So warben etwa Deutschland und Österreich hunderttausende Menschen aus Süd- und Osteuropa, besonders aus dem damaligen Jugoslawien und der Türkei an, damit diese als Arbeitskräfte den wirtschaftlichen Aufbauprozess unterstützen. Aus der ursprünglich geplanten temporären Zuwanderung von Arbeitskräften wurde jedoch eine dauerhafte Zuwanderung von Familien, welche diese Gesellschaften nachhaltig veränderte und vor neue Herausforderungen stellt.

Migration und Staatsbürgerschaft

Wie bereits ausgeführt, ist Demokratie weitgehend national institutionalisiert: Wahlen, parlamentarische Vertretung, Regierung, Gerichtsbarkeit, etc. beziehen sich auf den institutionellen Rahmen eines Nationalstaates. Daher stellt steigende Internationalisierung und Globalisierung eine gewisse Herausforderung für Nationalstaaten und Demokratien dar. Staatsbürgerschaft ist in fast allen Staaten der Welt eine Voraussetzung, um das aktive und passive Wahlrecht (auf nationaler Ebene) zu erhalten. Wenn aufgrund von Migrationsbewegungen und der damit verbundenen demographischen Entwicklung die Gruppe von Menschen in einem Staat, die eine andere Staatsbürgerschaft besitzt und daher nicht wahlberechtigt ist, ständig anwächst, so stellt dies mittelfristig eine Herausforderung für das demokratische Prinzip dar: Die Gruppe der Regierten ist nicht mehr mit der Gruppe der Regierenden identisch. Die Anzahl der Menschen, die kein Wahlrecht hat und die damit nicht die Gesetze mitbestimmen können, denen sie unterworfen sind, steigt – obwohl diese Menschen ebenso wie Staatsbürger*innen Steuern zahlen, arbeiten gehen, Kinder erziehen, sich an Gesetze halten und das Gewaltmonopol des Staates akzeptieren.

Die Frage nach der Zusammensetzung des Demos und des Zugangs zu politischen Mitbestimmungsrechten wird daher neu gestellt und diskutiert. Das Problem der Inklusion wird erneut aufgeworfen. Durch den dauerhaften Ausschluss eines wachsenden Bevölkerungsteils von der politischen Teilhabe kann ansonsten ein Legitimationsdefizit des demokratischen Systems entstehen.

In der Europäischen Union sind die Mitgliedsstaaten in unterschiedlichem Ausmaß mit der Herausforderung von Bevölkerungsgruppen ohne Staatsbürgerschaft und damit ohne politische Teilhaberechte konfrontiert: Während der Anteil von Nichtstaatsangehörigen im Jänner 2019 nur 0,8 Prozent in Polen und 1,4 Prozent in Bulgarien betrug, so liegt dieser Anteil in Deutschland und Belgien bei 12,2 Prozent und in Österreich bei 16,1 Prozent. Die größten Bevölkerungsgruppen ohne Staatsbürgerschaft verzeichnen Malta mit 16,9 Prozent, Zypern mit 17,8 Prozent, und Luxemburg mit 47,4 Prozent (vgl. Eurostat 2020b). Darüber hinaus sind migrantische Bevölkerungsgruppen auch innerhalb eines Staates nicht gleichmäßig „verteilt“, sondern konzentrieren sich häufig auf größere Städte. In Österreich hatten Anfang 2020 insgesamt etwa 16,7 Prozent der Bevölkerung keine österreichische Staatsbürgerschaft, in Wien machte dieser Anteil jedoch über 30,81 Prozent aus (vgl. Statistik Austria 2020a). Dieser Umstand kann für politische Repräsentant*innen in manchen Gemeinden oder Bezirken durchaus ein Problem darstellen, wenn ein großer Teil der Einwohner*innen ihres Wahlkreises von der Wahl ausgeschlossen sind. Bei den Gemeinderats- und Landtagswahlen in Wien im Oktober 2020 führte dies zu folgender „Stimmenverteilung“:

Wahlergebnis bzw. Stimmenverteilung der Wiener Wohnbevölkerung im wahlberechtigten Alter (ab 16 Jahren).
Quellen: Statistik Austria/MA 62
© Eigene Darstellung

Demgegenüber steht das offizielle Wahlergebnis der Wahl im Oktober 2020:

Offizielles Endergebnis der Wiener Gemeinderatswahl 2020.
Quelle: Stadt Wien, www.wien.gv.at/wahlergebnis/de/GR201/index.html
© Eigene Darstellung

Im Lauf der Jahrzehnte schuf die Entkoppelung von sozialen und bürgerlichen Rechten und Freiheiten vom rechtlichen Status der Staatsangehörigkeit eine weitgehende Gleichstellung von Staatsbürger*innen und Nichtstaatsangehörigen. Diese Entwicklung wird in der Literatur häufig als denizenship bezeichnet: Die Menschen sind unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft in den meisten Belangen des Lebens rechtlich gleichgestellt – einzig die politischen Teilhaberechte sind den Staatsbürger*innen, also den „Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft“ vorbehalten (vgl. Caramani/Strijbis 2013: 387). Eine wachsende Gruppe von Menschen ohne politische Teilhabemöglichkeiten in demokratischen Gesellschaften stellt nun den Ausgangspunkt von neuen Diskussionsprozessen und Reformansätzen dar (Caramani/Strijbis 2013: 401). Hierbei muss wiederum differenziert werden, da innerhalb der EU mit der Einführung der Unionsbürgerschaft (vgl. Vertrag von Maastricht 1992) zwei verschiedene „Kategorien von Nicht-Staatsangehörigen“ mit unterschiedlichen politischen Rechten geschaffen wurden: Bürger*innen anderer EU-Staaten genießen nicht nur aufgrund der Schengener Abkommen größere persönliche Freizügigkeit und freieren Arbeitsmarktzugang, sondern auch gewisse politische Partizipationsrechte: Bei Kommunalwahlen können sie in ihrem Wohnsitzstaat abstimmen, ebenso bei Wahlen zum Europäischen Parlament – während Drittstaatsangehörigen diese Formen der Partizipation verwehrt bleiben (vgl. Anderson/Just 2012: 507). Die Frage nach der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft wird daher in den letzten Jahren in mehreren europäischen Staaten neu verhandelt und hat in einigen Ländern bereits zu rechtlichen Reformen in diesem Bereich geführt.

Emigration und Staatsbürgerschaft

Die Frage nach der demokratischen Inklusion stellt sich im Zusammenhang mit Migration jedoch auch umgekehrt, nämlich für die Herkunftsländer von Migrant*innen: Wie gehen Staaten damit um, dass Menschen temporär oder dauerhaft das Land verlassen? Versuchen die Staaten, eine Beziehung zu diesen Bürger*innen aufrecht zu erhalten, indem sie die Möglichkeit schaffen, vom Ausland aus zu wählen? Immerhin tragen emigrierte Bürger*innen (besonders aus ärmeren Staaten) häufig zum Wohlstand einer Gesellschaft bei, indem sie ihre daheim gebliebenen Verwandten finanziell unterstützen (remittances/remesas). Manche Staaten hingegen sehen weder eine Möglichkeit zur politischen Teilhabe vom Ausland aus vor, noch bleibt die rechtliche Beziehung der Staatsangehörigkeit bestehen, wenn Menschen über einen gewissen Zeitraum außerhalb der Landesgrenzen leben: Die Staatsbürgerschaft bzw. das Wahlrecht kann auch entzogen werden, mit der Begründung, dass diese Bürger*innen ja nicht mehr den nationalen Gesetzen unterworfen wären und daher auch kein Recht dazu hätten, diese Gesetze mitzugestalten (vgl. Näsström 2011: 119). Das Problem der Inklusion stellt sich also auch umgekehrt, als Problem der Exklusion: Wer gehört nicht mehr zur Gemeinschaft? Eine Studie aus dem Jahr 2013 untersucht genau diesen Aspekt des Wahlrechts bei OECD Staaten: Während beispielsweise Österreich, Belgien, Dänemark, Italien und Spanien ebenso wie Schweden und Schweiz ein Wahlrecht für im Ausland lebende Staatsbürger*innen vorsehen (beispielsweise per Briefwahl). Sieht Irland dies gar nicht vor und Australien, Canada, Neuseeland, Portugal und Großbritannien sowie Deutschland sehen diese Form der Teilhabe nur in einem bestimmten Zeitraum vor, der von drei Jahren (Neuseeland) bis zu 25 Jahren (Deutschland) reichen kann (vgl. Caramani/Strijbis 2013: 364). Besonders in lateinamerikanischen Staaten mit einem großen Bevölkerungsanteil, der in den USA oder Kanada lebt, wird die Frage nach Wahlmöglichkeiten aus dem Ausland sowie nach Mehrfachstaatsbürgerschaften diskutiert (beispielsweise Leal/Lee/McCann 2012: 540). Die jeweiligen rechtlichen Regelungen in den Herkunftsstaaten von Migrant*innen haben indirekt auch Einfluss auf die Integration dieser Menschen in die Zielgesellschaften: Je stärkere Anreize der Herkunftsstaat bietet, um eine enge Verbindung aufrechtzuerhalten, desto schwächer bzw. langsamer gestaltet sich häufig die Integration in den neuen Heimatstaat.

Globalisierung und internationale politische Zusammenarbeit

Globalisierung bezeichnet einen Prozess, in dem weltweite Beziehungen in verschiedensten Bereichen und auf verschiedenen Ebenen stärker und häufiger werden (www.globalisierung-fakten.de). Beispielsweise sind wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Gemeinden verschiedener Länder, zwischen Regionen und Nationalstaaten, wissenschaftlicher Austausch, Reisen, die Vernetzung durch das Internet und die dadurch „kürzer“ gewordenen Distanzen zwischen Staaten Ausdruck der Globalisierung. Aufgrund technologischer Fortschritte und steigendem Wohlstand in einem Teil der Welt sind Grenzübertritte logistisch, technisch und wirtschaftlich einfacher zu bewältigen geworden und finden auch häufiger statt. Diese fortschreitende Globalisierung führt zu einer verstärkten Entgrenzung und Entterritorialisierung, nicht nur von Kapital- und Warenverkehr, sondern auch von Menschen, Ideen und Identitäten (vgl. Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2008: 165). Durch die wachsende Globalisierung und die engere Zusammenarbeit von Staaten wurde die Bedeutung von geografischen Grenzen für manche Politikbereiche geschmälert (vgl. Caramani/Strijbis 2013: 387). Es wurde einfacher und selbstverständlicher, Grenzen zu überschreiten, weil dies ja auch – beispielsweise bei Handelsbeziehungen – zum gegenseitigen Vorteil geschieht.

Dies führte jedoch auch dazu, dass gemeinsame Regelungen und Zuständigkeiten sowie gemeinsame Probleme entstanden, die ein Staat alleine nicht bestimmen oder lösen kann, sondern die zwischen verschiedenen Staaten einvernehmlich erarbeitet werden müssen. So entstand seit der Erarbeitung der UN-Charta 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 schrittweise eine Art globaler Konstitutionalismus, ein immer dichter werdendes Netz aus internationalen Verträgen, rechtlichen Bestimmungen und verbindlichen Mindeststandards, welche die gegenseitige Abhängigkeit und Zusammenarbeit der Staaten unterstützt und gleichzeitig regelt (vgl. Brunkhorst/Kettner 2000: 13). Zwar ist der Nationalstaat noch immer der wichtigste Akteur im internationalen politischen System und wird es auch in der absehbaren Zukunft bleiben, doch ist an seine Seite eine Reihe weiterer Akteur*innen getreten, wie etwa NGOs (Nichtregierungsorganisationen), internationale Organisationen, supranationale Akteur*innen, Institutionen, etc. sodass demokratische politische Strukturen schrittweise erweitert werden müssen (vgl. Thürer 2000: 178). Dadurch wird die schrittweise eingegrenzte Souveränität und Entscheidungsfreiheit von Nationalstaaten durch immer mehr internationale Normen, stärkeren Menschenrechtsschutz und eine besser vernetzte Zivilgesellschaft ergänzt (vgl. Benhabib 2007: 170f). Dabei darf nicht vergessen werden, dass mitunter zwischen dem demokratischen Mehrheitswillen eines Staates und aus internationalen Verpflichtungen resultierenden Normen durchaus Konflikte entstehen können, welche die demokratische Kontrolle nationalstaatlicher Regierungen durch ihre Bürger*innen einschränken können (vgl. Näsström 2011: 122; Benhabib 2007: 179): Verstößt ein nationales Gesetz gegen verbindliche internationale Normen, so müsste dieses reformiert oder aufgehoben werden, auch wenn die Mehrheit der Bürger*innen bzw. deren Repräsentant*innen dieses Gesetz unterstützt.

Nicht nur nationalstaatliche Institutionen, sondern auch internationale benötigen ein gewisses Maß an demokratischer Kontrolle und Rückbindung an die Bürger*innen – dementsprechend ist die Debatte um mögliche Erweiterungen von Demokratie und bürgerschaftliche Mitbestimmung auf die über-nationale Ebene eine sehr aktuelle und wichtige im Feld der Demokratieentwicklung und der Staatsbürgerschaftskonzepte.

Entstehung eines globalen Konstitutionalismus

Der bereits angesprochene entstehende globale Konstitutionalismus wird durch drei weltpolitische Trends bestimmt: Neue Risiken und weltweite Phänomene, neue Akteur*innen sowie neue Governance-Strukturen, die eine neue Form der Souveränität mit sich bringen (vgl. Fues 2007: 1f).

Weltweite Phänomene wie Klimawandel, Umweltverschmutzung, internationale Wirtschaftsbeziehungen, internationale Konflikte, etc. sind Entwicklungen oder Strukturen, die alle Menschen und Staaten dieser Welt betreffen. Gleichzeitig sind es Ereignisse, die nicht territorial gebunden sind, sondern globale oder zumindest regionale (z.B. auf einem bestimmten Kontinent) Auswirkungen haben. Wenn es beispielsweise aufgrund des Klimawandels eine Dürreperiode gibt, so macht diese nicht an Staatsgrenzen halt. Wenn aufgrund von regionalen Umweltkatastrophen oder Konflikten Wanderungs- oder Fluchtbewegungen entstehen, so sind in weiterer Folge auch (geografisch) weiter entfernte Staaten von diesem Phänomen betroffen. Und wenn es im internationalen Finanzsystem eine Krise gibt, wie wir sie 2008 erlebt haben, oder eine Pandemie, wie 2020/21, so lässt sich diese ebenfalls nicht auf einen oder wenige Staaten begrenzen. Dies ist auch eine Folge der Globalisierung: Aus der stärkeren Vernetzung resultiert größere gegenseitige Abhängigkeit und Verwundbarkeit der einzelnen Staaten. Wenn es in einem Staat eine Krise oder ein Problem gibt, so wirkt sich dies auf viele andere Staaten aus.

Durch die verstärkte politische Zusammenarbeit auf internationaler und supranationaler Ebene wird einerseits der Handlungsspielraum von Nationalstaaten und deren Regierungen schrittweise begrenzt. Teils, weil Staaten mit Phänomenen konfrontiert sind, die sie nicht allein bewältigen können, teils, weil durch internationale Verträge, Völkerrecht und europäische Integration ihr politischer und rechtlicher Spielraum eingeschränkt wurde. Dies stellt eine Herausforderung für die Demokratie dar, welche nationalstaatlich strukturiert und organisiert ist. Zunehmend werden Entscheidungen nicht mehr von nationalen (demokratisch legitimierten) Politiker*innen, sondern von internationalen oder supranationalen Akteur*innen getroffen, die nicht in vergleichbarer Weise demokratisch legitimiert sind (vgl. Näsström 2011: 124). Gleichzeitig ist der Einfluss von demokratisch nicht legitimierten wirtschaftlichen Akteur*innen (wie etwa Konzernen) aufgrund der internationalen Deregulierung von Wirtschaftsbeziehungen und der fortschreitenden Ökonomisierung von Politik stark gewachsen.

Andererseits darf diese Einschränkung von staatlicher Handlungsfreiheit nicht als eine Art Nullsummenspiel verstanden werden, bei dem Nationalstaaten Macht verlieren und internationale Akteur*innen Macht gewinnen, denn diese werden Großteils von Nationalstaaten und deren Vertreter*innen geschaffen und kontrolliert. Es kann also eher von einer Verlagerung von Entscheidungsmacht bzw. von der Schaffung ergänzender Strukturen gesprochen werden (vgl. Thürer 2000: 191). Durch das Erstarken von neuen Machtstrukturen, die außerhalb bzw. über den traditionellen nationalstaatlichen Strukturen stehen, welche eine demokratische (Kontroll-)Beziehung zwischen Bürger*innen und „ihren“ Staaten darstellen, entsteht aber parallel die Notwendigkeit zur Erweiterung und Ergänzung von demokratischen Strukturen und damit auch von staatsbürgerschaftlichen Konzepten. Ansätze für diese Erweiterung sind bereits in einer entstehenden globalen Zivilgesellschaft erkennbar. Diese nehmen Wünsche und Bedürfnisse der Zivilgesellschaft auf und tragen sie in die Arenen der internationalen Politik (UNO, internationale Organisationen) hinein. Diese beginnende Entwicklung von steigender Verrechtlichung von internationaler Politik und von stärkerer Einbindung von nicht-staatlichen Akteur*innen in internationale Verhandlungen und Beschlussfassungen wird unter dem Begriff governance zusammengefasst und bezeichnet die sich entwickelnde, noch schwer zu fassende erweiterte Struktur des Regierens, die nicht mehr ausschließlich im nationalstaatlichen Rahmen stattfindet (vgl. Thürer 2000: 202, 205).

Bisher wurden nationale Gesellschaften als abgeschlossene, in sich homogene Gefäße konzeptualisiert, die nebeneinander stehen. Ein solches Gefäß ist überschaubar und relativ einfach zu regieren. Gleichzeitig sind diese Regierungsstrukturen auch in ein System demokratischer Kontrollmechanismen eingebettet, welches die Mitbestimmung der Staatsbürger*innen gewährleistet. Wenn sich jedoch diese „abgeschlossenen Einheiten“ öffnen und die Zugehörigkeiten und Grenzen zu verwischen beginnen und neue Strukturen entstehen, so funktionieren die Mechanismen, mit denen die Nationalstaaten regiert wurden, nur mehr eingeschränkt. Genau dieses Problem entsteht durch Globalisierung und verstärkte internationale Zusammenarbeit für nationalstaatliche Regierungen: Die Bevölkerung der Nationalstaaten ist nicht mehr so einheitlich und stabil, wie das früher vielleicht der Fall war und die Betroffenheit von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen auf der internationalen Ebene hat eine andere Reichweite erlangt. Die Annahme, dass eine Gesellschaft territorial gebunden und „unbeweglich“ in einem Staat lebt, muss hinterfragt werden (vgl. Seitz 2009: 41). Sie war immer ein Idealmodell, das nicht vollständig der Realität entsprochen hat. In einer neuen Situation, in der viele Dinge nicht mehr so eindeutig abzugrenzen und zuzuordnen sind, muss die Politik neue Strategien und Regelungsmechanismen entwickeln, was derzeit die Europäische Union versucht.

Supranationale Zusammenarbeit – Europäische Union

Am häufigsten und am stärksten werden die Auswirkungen der internationalen politischen Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union diskutiert: Die Mitgliedsstaaten der EU verlagern zunehmend ursprünglich nationale Kompetenzen an die supranationalen Organe der EU (Kommission, Europäisches Parlament). Das bedeutet, dass nationale Regierungen in vielen Politikbereichen nicht mehr alleine souverän entscheiden können, sondern mit den anderen europäischen Regierungen Kompromisse schließen müssen bzw. gibt es in vielen Bereichen genuin europäische Richtlinien und Verordnungen, die für die Nationalstaaten verbindlich sind. Dieses komplexe und neuartige System von supranationaler Entscheidungsfindung stellt vielfältige Herausforderungen für herkömmliche, national gedachte demokratische Systeme dar: Einerseits werden die nationalen Parlamente teilweise entmachtet, weil auf EU-Ebene lange Zeit hauptsächlich die Mitglieder der Exekutive verhandelten und entschieden (Europäische Kommission, Ministerräte). Dies bedeutet, dass in den nationalen politischen Systemen die Exekutive (Regierung) gegenüber der Legislative (Parlament) gestärkt wurde. Weiters müssen die Regierungen auf EU-Ebene Kompromisse schließen, das bedeutet, die nationalen Parlamente und Öffentlichkeiten können ihre Regierungen häufig nicht mehr direkt zur Rechenschaft ziehen, wenn politische Entscheidungen nicht in ihrem Sinne getroffen wurden: Es mussten eben Kompromisse gefunden werden.
Diese verschiedenen Tendenzen und Faktoren führen dazu, dass ein Legitimationsdefizit der nationalen Demokratien durch die zunehmende Internationalisierung von Politik entsteht. Der Ausbau der supranationalen Entscheidungskompetenzen wurde bisher nämlich nicht von einer entsprechenden supranationalen Demokratisierung begleitet, welche entstehende Herausforderungen mildern könnte (vgl. Seitz 2009: 43). Das Europäische Parlament wird zwar seit 1979 direkt gewählt und wurde seither stetig gestärkt, sodass es heute in beinahe allen Bereichen, die auf europäischer Ebene entschieden werden, mit dem Rat gleichberechtigt ist. Dennoch ist durch die europäische Integration sowie durch die fortschreitende Globalisierung insgesamt eine Stärkung der Regierungen gegenüber den Parlamenten zu beobachten. Auch ökonomische Strukturen und Logiken werden zunehmend einflussreicher und begrenzen die Entscheidungsfreiheit souveräner Staaten. In diesem Zusammenhang wird in der wissenschaftlichen Literatur auch von der Ökonomisierung des Politischen gesprochen (vgl. Salzborn 2012: 122). Die Frage, wie ein so großes und komplexes politisches Gebilde stärker demokratisch kontrolliert und strukturiert werden könnte, wird daher sowohl in der Politik als auch in der Politikwissenschaft seit vielen Jahren intensiv diskutiert.

Neue Formen von Partizipation

Vielfach wird auch mangelndes politisches Interesse und Partizipation der Bürger*innen als Herausforderung für Demokratie bezeichnet, manche sprechen von einer Krise der Demokratie (bspw. der britische Politikwissenschafter Colin Crouch in seinem Buch „Post-Democracy“ 2004) bzw. ist von Politikverdrossenheit die Rede. Partizipation von Bürger*innen in einem demokratischen System wird dabei vorwiegend anhand von Wahlbeteiligung, Parteimitgliedschaft und aktivem Engagement in Parteien oder parteinahen Organisationen gemessen (vgl. Bolzendahl/Coffé 2013: 50). Demokratische Staaten bzw. Parteien führen normalerweise Statistiken und veröffentlichen Umfragen zum Thema, sodass eine vergleichende Betrachtung zwischen verschiedenen Staaten und über längere Zeiträume möglich ist: Wie entwickelt sich die politische Partizipation in Demokratien? Zahlreiche Studien zeigten in den vergangenen Jahren, dass die klassischen Formen der politischen Partizipation an Bedeutung verlieren: Parteien haben zunehmend weniger Mitglieder und vor allem haben sie Schwierigkeiten, junge Mitglieder zu rekrutieren und dauerhaft an sich zu binden; damit einher geht sinkendes Engagement in Parteien oder parteinahen Verbänden, Gewerkschaften, etc. Auch Wahlbeteiligungen sanken in den meisten westlichen Demokratien im Laufe der letzten 20 Jahre, wenn es auch teils wieder einen leichten Aufwärtstrend gibt (siehe beispielsweise Überblick bei Whiteley 2011: 22; Bastedo/Goodman/LeDuc et al. 2011: 589).

Auch in Österreich, historisch betrachtet stets ein Land mit sehr hoher Organisationsdichte, sind Parteien und parteinahe Organisationen mit Mitgliederschwund konfrontiert: Beispielsweise gingen die Mitgliederzahlen der SPÖ von einem Höchststand von 721.000 Mitgliedern 1979 auf einen bisherigen Tiefststand von etwa 180.000 Mitgliedern 2017 zurück (orf.at 2017). Auch die ÖVP musste einen deutlichen Rückgang von Mitgliedern verzeichnen, wobei ebenfalls Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre ein Höchststand mit über 720.000 Mitgliedern verzeichnet wurde (vgl. Ucakar 2006: 332, 347). Auch die Wahlbeteiligung sank in Österreich von 92,9 Prozent bei den Nationalratswahlen 1975 auf 75,6 Prozent im Jahr 2019 (bundeswahlen.gv.at). Im internationalen Vergleich liegt die österreichische Wahlbeteiligung dabei noch relativ hoch. Während in den letzten Jahrzehnten in vielen Staaten Wahlbeteiligungen kontinuierlich gesunken sind, ist vor allem in den letzten fünf bis zehn Jahren vielfach wieder ein leichter Anstieg zu beobachten.

Diese allgemeinen Tendenzen werden zwar häufig in Umfragen und Studien beobachtet, können aber nicht genau erklärt werden: Warum gehen die Menschen weniger zur Wahl? Warum ist eine Parteimitgliedschaft weniger attraktiv geworden? Immerhin sind Parteien weiterhin zentrale Akteur*innen in nationalstaatlich verfassten Demokratien und Wahlen das zentrale Instrument, um Interessensvertreter*innen zu bestimmen und somit die Politik des eigenen Landes mitzugestalten (vgl. Whiteley 2011: 22). Geringere Partizipation schwächt einerseits die Legitimation des demokratischen Systems und andererseits die politische Kontrolle der Regierung bzw. der Repräsentant*innen durch die Bürger*innen. Meist werden diese Tendenzen als Krisenerscheinungen von Demokratien bezeichnet: Formen der traditionellen politischen Teilhabe stoßen auf weniger Interesse (vgl. Urbinati/Warren 2008: 403). Neben der Möglichkeit, dass eine wachsende Bevölkerungsgruppe aus rechtlichen Gründen nicht an Wahlen teilhaben kann besteht also auch die Möglichkeit, dass eine wachsende Bevölkerungsgruppe ihre politischen Teilhaberechte nicht nützt. Beides stellt eine Herausforderung an die Demokratie und das demokratische Prinzip dar. Andererseits sind Wahlen nur eine Möglichkeit der politischen Teilhabe unter mehreren.

Neue Mitbestimmungsformen

Im Gegensatz zur sinkenden „traditionellen“ politischen Partizipation entstanden in den letzten Jahren neue Formen von Teilhabe. Manche Politikwissenschafter*innen argumentieren, dass diese eine Art Ausgleich zur sinkenden traditionellen Partizipation sein könnte, bzw. dass alternative Beteiligungsformen ein Grund für sinkende Wahlbeteiligung sein könnten (vgl. Whiteley 2011: 23). Darüber hinaus sind viele dieser neueren Partizipationsmöglichkeiten nicht an den rechtlichen Status der Staatsbürgerschaft geknüpft. Neue Technologien wie etwa das Internet bzw. Social Media ermöglichen neue Protest- und Ausdrucksformen sowie alternative Organisationsformen. Diese veränderten Beteiligungsformen zeigen einerseits neue Möglichkeiten der Partizipation, lassen andererseits aber auch auf ein gewandeltes Verständnis der Menschen – vor allem jüngerer Bürger*innen – von politischer Mitbestimmung und der Bedeutung von Bürger*innenschaft bzw. Citizenship schließen. Über die möglichen positiven und negativen Auswirkungen von diesen erweiterten Möglichkeiten von Kommunikation und Partizipation online gibt es eine rege wissenschaftliche Debatte, in der so genannte Netz-Pessimist*innen den Netz-Optimist*innen gegenüberstehen. Während die einen vor allem auf Gefahren, mögliche neue Ausschlüsse, Manipulationsmöglichkeiten, Filterblasen, algorithmische Verzerrungen etc. auf Social Media hinweisen, konzentrieren sich die anderen vor allem auf neue Räume und Möglichkeiten, auch ohne formale Partizipationsmöglichkeiten und ohne räumliche oder andere Beschränkungen aktiv werden zu können, sich Gehör zu verschaffen und den öffentlichen Diskus mitzubestimmen (einen guten Überblick dazu findet man bei Escher 2013; Casteltrione 2015; Kneuer/Salzborg 2016).

Beispielsweise zeigte eine Online-Umfrage unter jungen kanadischen Wähler*innen 2008, dass eine relativ große Gruppe von ihnen Citizenship nur als einen rechtlichen Status definieren, der mit bestimmten Rechten für das Individuum verbunden ist. Einige der Befragten verbanden mit dem Konzept der Bürgerschaft also keinerlei Bedürfnis, sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen oder Vorstellungen von Verpflichtungen, einer Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen oder ähnliches. Entsprechend gaben die Befragten an, dass sie noch niemals wählen waren und auch nicht vorhätten, zur nächsten Wahl zu gehen (Bastedo/Goodman/LeDuc 2011: 870). Diesem minimalistischen Verständnis von Staatsbürgerschaft steht auf der anderen Seite ein komplexes Konzept von Rechten, Freiheiten, Pflichten, Möglichkeiten, Ideologie und Identität gegenüber (vgl. Bastedo/Goodman/LeDuc 2011: 872). Menschen mit einer umfassenderen Vorstellung von ihrer Rolle als Bürger*innen sind auch eher bereit, aktiv teil zu nehmen, wählen zu gehen oder sich anderweitig zu engagieren.

Verschiedene Umfragen haben auch ergeben, dass die Formen und Gewohnheiten der politischen Teilhabe in gewisser Weise eine Generationenfrage sind: Generell sind ältere Menschen eher dazu bereit, wählen zu gehen, als jüngere. Im Gegensatz dazu nehmen jüngere Menschen eher an Demonstrationen teil oder engagieren sich auf unkonventionelle Weise (beispielsweise Petitionen unterzeichnen, Protestaktionen, Mitgliedschaft in Vereinen, bewusster Konsum, etc.) während ältere Menschen bei solchen Partizipationsmöglichkeiten eher wenig vertreten sind (vgl. Melo/Stockemer 2014: 34). Insgesamt kann man also nicht einfach behaupten, dass junge Menschen nicht an Politik interessiert seien, oder nicht aktiv teilnehmen würden; sie tun dies nur tendenziell auf andere Art und Weise als ältere Menschen (vgl. Melo/Stockemer 2014: 45).

Diese neueren Formen der Partizipation, die auch unkonventionelle Partizipation genannt wird, weil sie außerhalb der konventionellen Strukturen (wie eben Wahlen) stattfindet, werden manchmal auch Scheckbuchpartizipation genannt: In der schnelllebigen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts haben viele Menschen einfach nicht die Zeit – oder nehmen sich nicht die Zeit – um selbst in Parteien oder Vereinen aktiv zu sein, um sich selbst zu engagieren und ihre Meinung öffentlich zu vertreten. Daher unterstützen sie – meist finanziell – andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen, z.B. NGOs und Vereine, die das für sie übernehmen (vgl. Whiteley 2011: 22). Das bedeutet, dass diese an ihrer Stelle ihre Interessen mit vertreten.

Eine andere Form der Scheckbuchpartizipation ist bewusster Konsum: Viele Menschen werden sich ihrer Macht als Konsument*innen bewusst und entscheiden nach Kriterien der Ethik, Klima-, Menschenrechts-, Umwelt- und Tierschutz, welche Produkte sie kaufen, welche Produktionsweisen sie unterstützen und akzeptieren. Dadurch beeinflussen sie einerseits die Nachfrage am Markt und drücken andererseits auch aus, welche Praktiken sie gutheißen und welche nicht, wodurch gesellschaftlicher Druck auf die Politik ausgeübt wird, ebenfalls entsprechend zu handeln.