Wie das Netz tickt: Debattenkultur im Netz

Neben Sozialen Netzwerken als Schauplätzen für terroristische Propaganda oder Hate Speech sind auch herkömmliche Medien immer öfter gefordert, ein Maß zwischen Meinungsfreiheit und Regulierung zu finden. Medien sind eine wichtige Säule der Demokratie, weshalb sie auch immer wieder als vierte Gewalt bezeichnet werden. Mit der Digitalisierung und der immer größeren Bedeutung von Sozialen Medien geraten klassische Medien immer weiter unter Druck. Vor allem in den vergangenen Jahren sank das Vertrauen in sie – der Begriff „Lügenpresse“, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in völkischen und nationalistischen Kreisen die Runde gemacht hatte und vor allem von den Nationalsozialist*innen diffamierend verwendet worden war (vgl. spiegel.de), wurde wieder ausgegraben, und klassische Medien vor allem von rechtspopulistischen Politiker*innen diskreditiert. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der US-Präsident Donald Trump, der bereits im Wahlkampf regelmäßig Medien angegriffen hatte und nun davon spricht, im Krieg mit den Medien zu stehen (vgl. derstandard.at).

Dabei setzen auch klassische Printmedien längst auf Online-Journalismus und betreiben auf ihren Websites häufig Online-Foren, in denen User*innen ihre Kommentare posten können – dies wurde als Möglichkeit angesehen, die Debattenkultur zu stärken und mehr Raum für Diskussionen und Mitsprache zu schaffen. Bald entgleisten jedoch immer mehr Forumsdebatten und Postings. Die Kommentarfunktionen wurden immer häufiger nicht (nur) dazu genützt, einen Artikel zu kommentieren oder sich mit anderen User*innen inhaltlich auszutauschen, sondern es wurden Beleidigungen, Verleumdungen und sogar Drohungen gegen Autor*innen, aber auch andere User*innen gepostet. Die Hassrede wurde zum Problem im Internet. Das Phänomen von Hate Speech und Shitstorms wird nun bereits seit mehreren Jahren beobachtet (vgl. z.B. Monitoring-Bericht 2015/16 der Amadeu Antonio Stiftung). Kinder, Jugendliche und ihre Eltern stehen vor der Herausforderung, einen „sicheren Umgang“ mit dem Internet zu üben, denn junge Menschen werden immer häufiger Opfer, aber auch Täter*innen im Bereich von Cyber-Mobbing. Wie Jürgen Pfeffer und Thomas Zorbach (2015: 128f.) schreiben, sind die Grenzen zwischen Shitstorm und Cyber-Mobbing fließend: „Während Cyber-Mobbing jedoch keinen erkennbaren Grund benötigt und es dabei im Kern um die Herabwürdigung eines anderen Menschen geht, gibt es bei einem Shitstorm in der Regel eine konkrete Ursache für die Diskussion, etwa ein bestimmter Sachverhalt, der von einem Teil der Internetnutzer subjektiv als Fehlverhalten eingestuft wird […]“.

Aber auch Journalist*innen oder Angehörige von Minderheiten etc. beklagen immer öfter, dass die Hemmschwelle für verbale Gewalt im Internet kontinuierlich sinkt. Besonders Frauen, Migrant*innen, berühmte Persönlichkeiten und auch Politiker*innen werden immer öfter Opfer von gezielten verbalen Attacken. Manche Medien und Foren reagierten darauf, indem sie ihre Kommentar-Seiten sperrten oder bei Artikeln zu gewissen Themen (etwa Migration, Flucht, aber auch Nahost-Konflikt) keine Kommentar-Möglichkeit eröffneten. Andere Seiten reagierten mit Moderation der Online-Foren, Löschen problematischer Postings oder dem Sperren von User*innen.

Rasch wurde auch die Frage aufgeworfen, warum Debatten online viel schneller eskalieren als offline, also warum im digitalen Raum viel untergriffiger und beleidigender kommuniziert wird als im persönlichen Gespräch. Otfried Jarren beschreibt, dass für die sogenannte Massenkommunikation politisch wie rechtlich ein im historischen Prozess ausgehandelter Ordnungsrahmen gilt, was zu einer bestimmten wie stabilen medialen Verantwortungskultur geführt hat (vgl. Jarren 2013: 243). Im Gegensatz dazu bestehen für Internet und Soziale Medien noch keine klaren Regeln: „Mit den Anwendungen des Internets relativieren sich gewisse Regel- wie Rechtsvorstellungen, verschwinden gar die etablierten Ordnungsvorstellungen wie Aufsichtsregime“ (ebd.: 244).

Neben dem, was Jarren als fehlenden Ordnungsrahmen bezeichnet, wurde häufig argumentiert, dass die Anonymität im Netz dazu beitragen würde, Hemmschwellen zu senken. Geht es um eine Anonymität im Sinne einer falschen Namensangabe, kann diese Annahme jedoch in Frage gestellt werden: Gerade das Jahr 2015 mit seinen massiven Fluchtbewegungen hat gezeigt, dass viele Menschen kein Problem damit haben, Hasskommentare in den sozialen Netzwerken unter ihrem echten Namen zu verfassen. Dennoch scheint ein gewisses Gefühl der Unsichtbarkeit mit ausschlaggebend zu sein. In der entsprechenden Literatur (vgl. z.B. Brodnig 2016: 13f.) wird häufig damit argumentiert, dass in der (meist schriftlichen) Online-Kommunikation entscheidende Merkmale eines persönlichen Gesprächs fehlen, nämlich die nonverbale Kommunikation: Gesichtsausdruck, Tonfall, Gestik etc. sind wesentliche Elemente in Gesprächen und fördern die Entstehung von Empathie. Im vergleichsweise anonymen, digitalen Gespräch fehlen diese nonverbalen Signale, ein Empathie-Gefühl ist weniger ausgeprägt. Dies ist eine Erklärungsmöglichkeit, warum Menschen Botschaften tippen und posten, die sie in einem persönlichen Gespräch vermutlich nicht in dieser Schärfe sagen würden (ebd.). Der Psychologe John Suler (2005: 184f.) spricht in diesem Zusammenhang vom Online Disinhibition Effect („Online-Enthemmungseffekt“). Nicht umsonst formulierte Virginia Shea bereits 1994 in ihrem Buch Netiquette als erste Regel „Remember the human“ (vgl. Shea 1994).

Was das Thema der Anonymität im Netz betrifft, so wird die Frage, wie damit umgegangen werden soll, seit Jahren diskutiert. Zum einen wird ein Eingreifen seitens der Politik gefordert, um Personen beispielsweise im Falle von Straftaten online besser greifen zu können, zum anderen ist die Anonymität online auch essentiell, wenn es darum geht, „grundlegende Werte unserer Gesellschaft zu schützen“ (Dirks 2013: 140). Hier spielt auch das Thema Datenschutz eine nicht unwesentliche Rolle.